Der Schatten.

Neujahrs-Humoreske von Teo von Torn
in: „Bielefelder General-Anzeiger” vom 31.12.1903,
in: „Hessische Morgenzeitung” vom 31.12.1903,
in: „Reichenberger Zeitung” vom 05.01.1904,
in: „Livländischer Kalender” 1905,
in: „Bielitz-Biala'er Anzeiger” vom 31.12.1909


Wenn man kaum drei Monate verheiratet ist und somit das jüngste Ehepaar einer — verzeihen Sie das harte Wort — kleinen Garnison ist, so genießt man eine gewisse Ausnahmestellung. Die ehernen Gesetze des dienstlichen und gesellschaftlichen Lebens kommen sozusagen unter Zubilligung mildernder Umstände in Anwendung.

Dem Flitterwöchner gewähren die Herren Vorgesetzten aus freien Stücken bescheidene Erleichterungen. Keine besonders augenfälligen natürlich, damit der Schein gewahrt und der Neid der Götter nicht erregt wird — aber immerhin Erleichterungen. Ein Vorgesetzter kann eben noch so rauhbeinig sein, er ist früher auch einmal kaum drei Monate verheiratet gewesen und weiß, wie störend Wachdienst, Ronde und ähnliche zeitraubende Beschäftigungen für einen jungen Ehemann sind. Diesem wird es sogar mit einem verständnisvollen Augenzwinkern nachgesehen, wenn er bei einem Liebesmahle sich verkrümelte, ehe der Kommandierende einen letzten Witz erzählt, oder sonst das Zeichen zu Aufbruch gegeben hat. Eine gleiche Rücksichtnahme erfährt die junge Frau seitens der Walküren des Regiments. Selbst wenn sie einmal den Mittwoch Nachmittag der Frau Oberst vergißt — eine Verfehlung, die für die Frauen der ältesten Häuptlinge bedeutende Unannehmlichkeiten nach sich ziehen würde — so wird in Güte darüber hinweggesehen; denn auch die Frau Oberst war einmal kaum drei Monate verheiratet — wenn's auch schon lange her ist.

Alle Dinge haben aber ein Ende, und die guten ein frühes. Zwar nicht in rauhem Uebergange, sondern langsam und desto sicherer tritt des Dienstes ewig gleich gestellte Uhr wieder in ihr Recht, verflüchtigen sich die zarten Rücksichtnahmen. Als Leutnant Wolf von Rießbach zum erstenmale wieder wegen einer ganz kleinen Verspätung eine recht deutliche Meinungsäußerung seines Hauptmanns erfahren und Frau Kläre von Rießbach die erste spitzige Bemerkung der Frau Major Labes heimgebracht — da war es ihnen klar, daß ihre Zeit sich erfüllet hatte. Schweren, aber tapferen Herzens entschlossen sie sich, aus ihrem weltfremden Liebeswinkelchen in den Pflichtenkreis des Lebens zu treten. Die Peccos und zahllosen anderen Einladungen, deren Opfer sie gewesen, sollten zunächst durch eine große, allgemeine Abfütterung vergolten werden — durch einen Ball zu Sylvester!

Und das war heute.

Die Zimmerflucht der Rießbachschen Etage prangte bereits am frühen Nachmittag in vollem Festglanze. Trotzdem hatte Frau Kläre noch rasend zu tun. Der junge Gatte mußte sich die Kleine förmlich greifen, als er vom Dienst heimkam und und das zwingende Bedürfnis fühlte, ihr einen Kuß zu geben. Auch hatte er etwas auf dem Herzen, das nun keinen Aufschub mehr duldete.

„Schatzl — wir bekommen heute noch von außerhalb Besuch — —”

„Allmächtiger! Aber Wolf — wo wir doch ohnehin kaum Platz haben!”

„Geduldige Schafe gehen viel in einen Stall. Außerdem sind es nur zwei Kameraden, aus deiner Heimatstadt, meiner lieben alten Garnison.”

„Das — sagst — du — mir — jetzt — erst!?”

Jedes Wort war eine so wuchtige Anklage, daß Wolf Rießbach sich mit einigen Küssen stärken mußte, ehe er etwas kleinlaut erwiderte:

„Zunächst warst du doch in diesen letzten zwei gräßlichen Tagen gar nicht für mich vorhanden. Du hast mich schmachten lassen, Kläre! Verschmachten hast du mich lassen! Du hast — — ”

„Bitte, schweife nicht ab.”

„Na ja. Zweitens ist mir erst in elfter Stunde eingefallen, daß ich während meiner Dienstzeit alle Sylvesterabende mit den Beiden verlebt habe und wir uns zugeschworen, daß es immer so sein sollte, bis der Tod uns scheide — ”

„Und wer sind diese treuen Seelen, wenn man fragen darf?”

„Da ist zunächst mein lieber alter Freund und Kriegsschulkamerad Freiherr von Vollbrodt —”

„Vollbrodt! Natürlich! Als ob ich mir das nicht gedacht habe!” rief die kleine Frau heftig, indem sie von der Schaukel sprang, welche der Gemahl ihr auf seinen Knien bereitet. „Ah, nun verstehe ich diese Heimlichkeit! Das ist überhaupt ein Ueberfall — das ist — — — oooh es ist empörend! Hinter meinem Rücken diesen gräßlichen dicken Menschen einzuladen, den ich nicht leiden kann, und von dem Mama schon immer gesagt hat, daß er kein Umgang für dich sei!”

„Liebes Herz, Mamas Meinung in Ehren. Aber ein Offizier ist immer ein Umgang für einen Offizier,” erwiderte Wolf von Rießbach ernst. Dann fiel er wieder in seinen leichten zärtlichen Ton: „Nun sei gescheidt, Puß, und sage mir um alles in der Welt, was du gegen Vollbrodt hast. Er ist eine harmlose prächtige Seele, die nur den einen kleinen Fehler hat, daß sie zu ihrem rechten Wohlbefinden ein bißchen mehr Feuchtigkeit braucht, als andere. Dabei ist er aber ein tüchtiger, musterhaft pflichttreuer Offizier. Und schließlich — irgend einen Schatten haben wir doch alle!”

Frau Kläre richtete langsam das blonde Köpfchen auf und fragte gedehnt:

„Was haben wir alle —?”

„Nun, einen Schatten,!” lachte der Leutnant, äußerst vergnügt, da das Gewitter sich weegzuleiten schien. „Jeder Mensch hat etwas an sich oder in seiner Vergangenheit, das er nicht gern berührt sieht, dessen er sich vielleicht schämt und das man ihm eben zu gute halten muß.”

„Jeder Mensch?”

„Natürlich jeder.”

„Du — — auch —?”

Diese atemlose Frage brachte Herrn von Grießbach zur Erkenntnis, daß er hier eine jener Dummheiten begangen, mit denen junge Ehemänner sich ihre Position zu verderben pflegen. Und die Bestätigung dessen ließ auch nicht lange auf sich warten. Frau Kläre drückte ihr Taschentuch zu einem winzigen Knäuel zusammen, schluckte ein paarmal heftig und trat dann dicht an ihn heran.

„Wolf —” sagte sie mit bebender Stumme, „ich bin dein vor Gott und den Menschen dir angetrautes Weib. Du wirst mir sagen, was an dir oder in deiner Vergangenheit ist, dessen du dich schämst und das du nicht gerne berührt siehst. Ich schwöre es dir, daß ich es dir zu gute halten werde — kein Wort des Vorwurfs soll je über meine Lippen kommen! Aber ich muß es wissen! Hörst du — ich muß!”

„Kein Mensch muß müssen,” belehrte Herr von Rießbach freundlich und versuchte die ernst und flehend auf ihn gerichteten Augen seines Weibes zu küssen. Aber da kam er schön an.

„Also es stimmt,” hauchte sie entgeistert, „du hast etwas, das du mir verbirgst. Sonst würdest du nicht mit einem billigen Scherze darüber hinwegzugehen suchen. Es ist waaahr!”

Damit trat sie von ihm weg ans Fenster, schwer und schleppend — eine gebrochene Frau. Der Leutnant sah ihr mit offenem Munde und auch sonst nicht gerade gescheidtem Gesichtsausdruck nach.

„Aber was habe ich denn getan!”

„Das wirst du schon wissen,” klang es gepreßt von der Fensterbank her; „glaubst du, ich hätte es nicht schon lange bemerkt, daß dich etwas schweres bedrückt?”

„Jetzt wird es mir zu arg!” rief der Gepeinigte. „Was soll ich denn verbrochen haben? Ich habe weder Kupferdraht gestohlen, noch einen Bahnzug zum Entgleisen gebracht! Daß ich als Junge mal Äpfel gemaust habe, ist längs verjährt!”

Frau Kläre richtete sich mit der Miene stiller, schmerzensreicher Resignation auf:

„Das sagst du jetzt, nachdem du dich wider Willen verraten hast. Aber ich will nicht weiter in dich dringen. Du mußt selbst zu mir kommen, aus freien Stücken. Du mußt —” fügte sie mit tränenerstickter Stimme hinzu, „bei mir Zuflucht suchen vor dir selbst und vor den Mahnungen deines Gewissens. Denn im Grunde bist du nicht schlecht, Wolf, und du mußt furchtbar leiden. Wenn du also dein Herz erleichtern willst, dann komme zu deinem Weibe, dessen Liebe alles verstehen und alles entschuldigen wird.”

Wolf Rießbach war so mitgerührt, daß sein Zorn verfloß wie Butter an der Julisonne. Es tat ihm ordentlich leid, daß er nichts zu gestehen hatte. Er war schon dicht daran, sich irgend ein Verbrechen aus dem Daumen zu saugen. An dieser erneuten Dummheit wurde er glücklicherweise verhindert durch das Erscheinen der Frau Geheimrat Sperber, seiner verehrten Schwiegermama, die gekommen war, die erste Fête ihrer Kinder zu verschönen.

Mit einem lauten Aufschrei stürzte Frau Kläre an den hohen Busen der streng blickenden alten Dame, und der ganze Schmerz einer verlorenen schönen Illusion ergoß sich in die Worte: „Mama—aaa — — er hat einen Schatten!”

— — —

Knapp eine halbe Stunde vor dem Eintreffen der ersten Gäste hatte das Familiendrama noch keinen befriedigenden Abschluß. Eher eine Katastrophe — denn Frau Geheimrat Sperber holte noch einmal tief Luft.

„Ehe ich die Konsequenz dieser Szene ziehe, Herr von Rießbach,” sagte sie, indem sie die Hand auf den wie ein Theatermeer wogenden Busen drückte, „richte ich an Sie die Frage, ob Sie Ihre Worte zurücknehmen wollen. Daß Sie auch von mir behaupten, ich hätte einen Schatten, mag Ihnen hingehen. Es ist ja das Schicksal aller um das Wohl einer verheirateten Tochter besorgten Mütter, dieserhalb verhöhnt und verunglimpft zu werden; aber daß Sie auch von meinem Kinde dergleichen behaupten, werde ich mir nicht gefallen lassen!”

Der Leutnant zerknütterte wütend ein Telegramm, das man ihm vorhin gebracht hatte und schleuderte es auf den Tisch. Schließlich bezwang er sich doch noch einmal — aber man merkte ihm an, daß er an dem letzten Fädchen seiner Geduld zupfte:

„Verehrteste Frau Mama — ich habe Ihnen bereits zum hundert­dreiund­achtzigsten Male erklärt, daß dieser verfluchte Schatten lediglich eine allgemeine Bemerkung war, die sich gegen niemand im Speziellen richtete, weder gegen Sie noch gegen Kläre noch gegen mich selbst! Ich habe nur gesagt, daß jeder Mensch in seinem Leben etwas habe, daß ihn geniere. Es braucht nicht gerade ein Raubmord oder eine Brandstiftung zu sein. Irgend etwas, das vielleicht in seinen eigenen Augen schlimmer erscheint, als die Welt es beurteilen würde, wenn sie es wüßte. Das habe ich behauptet, und das behaupte ich noch!”

„Gut, mein Kind,” wandte sich die alte Dame entschlossen an ihre Tochter. „So wissen wir, was wir zu tun haben. Komm!”

Die junge Frau schrie auf und machte Miene, zu ihrem Gatten zu eilen. Bei diesem aber war das letzte Fädchen gerissen. Er ruckte in den Schultern auf und sagte mit einem Nachdruck, der die Frau Geheimrat entsetzt und außer Fassung zurückweichen machte:

„Nun ist's aber genug, liebe Mama! Es bleibt Ihnen unbenommen, sich so lächerlich zu machen, wie es Ihnen irgend beliebt. Ich werde aber nicht dulden, daß Sie einen Skandal provozieren, der mein Weib und mich dem ganzen Regimente unheilbar bloßstellt. In wenigen Minuten können unsere Gäste erscheinen — und da wollen Sie meine Frau, die Repräsentantin dieser festlich geschmückten Räume, wie ein krankes Küken unter den Pelerinenmantel nehmen und davongehen!? Da habe ich doch noch ein Wort mitzureden! Mehr noch als die allgemeine Blamage würde mich der Spott der Jugendfreunde berühren, welche ich heute erwarte, — denen ich mein Glück in den glühendsten Farben geschildert und die mich nun für einen Schwärmer und Aufschneider halten müßten! Herr von Vollbrodt hat leider abtelegraphiert, dagegen kommt mit dem Nachtzuge Herr von Brosien —”

Der Leutnant hielt trotz seiner Erregung verblüfft inne. Bei dem Namen hatte die kleine Frau einen leisen Schrei ausgestoßen und beide Händchen angstvoll an den Mund gepreßt. Auch in den Zügen der Frau Geheimrat wich die Empörung einer leichten Befangenheit.

Da trat der Lakai ein und meldete die ersten Gäste.

— — —

In einem kleineren Kreise wäre es wohl nicht verborgen geblieben, daß der Hausherr mehr noch als seine niedliche blonde Frau in keiner festlichen Stimmung war. Wenn er sich unbeobachtet wähnte, legten sich seine so heiteren und frischen Züge in die düsteren Kummerfalten einer Morchel.

Die Stimmung der Gesellschaft war fidel und wurde immer fideler, je mwhr man sich der Jahreswende näherte. Desto öfter auch sah Herr von Rießbach sich unbeobachtet — und in einem solchen Momente folgte er seiner Gattin in einen Palmenwinkel, den sie anscheinend absichtlich aufgesucht hatte.

„Herr von Brosien ist noch nicht da,” sagte er mit einer Betonung, unter der Frau Kläre schmerzhaft zusammenzuckte, „aber er kann jeden Augenblick eintreffen.”

„Leider! Ach Wolf — —”

Sie lag an seinem Halse und schluchzte herzbrechend. Er strich mechanisch über ihr Haar.

„Ich bin dein dir vor Gott und den Menschen angetrauter Mann — und bevor noch der erste Glockenschlag das neue Jahr verkündet, wirst du mir gestehen: Was ist mit Brosien!”

„Erlaß es mir, Wolf — ich bitte dich so sehr ich kann. ich will auch nie wieder unartig sein, wahr und wahrhaftig nicht!”

„Sprich!” bestand Herr von Rießbach, indem er das Köpfchen seiner Frau in beide Hände nahm und ihr Gesicht erhob. Als er aber den forschenden Blick in die himmelsreinen Kinderaugen seines Weibes getaucht, hatte er das Gefühl einer vernichtenden Beschämung . . . . .

„So will ich dir denn sagen, Wolf, was mich unsere ganze Brautzeit hindurch so geniert und geängstigt hat,” sagte sie, treuherzig zu ihm aufblickend. „Es ist etwas Schreckliches! Sieh mal — — vor sechs Jahren, ich ging noch zur Schule, — da war Herr von Brosien noch Fähnrich, wie du — und weil er mich immer so angeschmachtet hat, wie ein gemütskranker Seehund, weißt du — da habe ich ihm mal ein Gedicht — — — ein Gedicht geschickt. Wolf!! Du sagst nichts! Ist das so sehr schlimm!?”

„Sehr!” gluckste der Überglückliche.

„Ach, herzlieber Wolf! Ich werde es ja ganz gewiß nicht wieder tun! Sei gut! Ich habe ja damals schon von Mama solche fürchterliche Ausschelte bekommen, und die ganzen Jahre habe ich so schrecklich immer daran getragen; es war —”

„Dein Schatten!”

Als dann die Glocken draußen einsetzten und der brausende Tumult der Beglückwünschungen in den Palmenwinkel drang, winkte und lächelte durch die fliehenden Wölkchen und Schatten ein sonniges neues Jahr.

— — —